Adrià war die Speerspitze einer Bewegung, deren Küchenchefs nicht nur für ihre Arbeit innerhalb der Küche bekannt waren, sondern auch für das, was sie im Sinne der Gesellschaft bewirkten – der Social Gastronomie. Deren Vertreter experimentierten unter anderem mit regionalen Zutaten, entwickelten neue Zubereitungsmethoden, kritisierten die Massentierhaltung, unterstützten nachhaltig arbeitende Farmer und setzten sich dafür ein, die Ernährung in Schulen und Krankenhäusern gesünder zu gestalten.
Natürlich gab es auch Kritik, als sich Köche plötzlich in Bereiche einmischten, die typischerweise Arbeitsfelder von Regierung, Wissenschaft, Medizin und Unternehmen waren. Doch macht dies durchaus Sinn: Küchenchefs haben einen besonderen Blickwinkel auf die Nahrungskette. Sie haben Kenntnis davon, wie Nahrung angebaut, gefangen oder aufgezogen wird und sie wissen um die Auswirkungen auf die Umwelt. Sie kennen den Wert feiner und seltener Zutaten und den Einfluss neuer Entwicklungen auf kulturelle Trends. So übertrugen diese Küchenchefs ihre Leidenschaft für die Gastronomie auf die Gesellschaft – und beeinflussen seither die Art und Weise, wie wir denken, leben und vor allem essen.
Dan Barber und Michel Bras in der Vorreiterrolle
Anfang des laufenden Jahres eröffnete der New Yorker Koch und “Farm to Table”-Aktivist Dan Barber ein Pop-Up-Restaurant namens wastED in London, wo er Marmelade aus dem Grün von Karotten, vernarbte Kartoffeln und andere Gerichte aus Zutaten servierte, die üblicherweise weggeworfen werden. Dadurch konnten die Gäste mehr über die verschwenderische Kultur der modernen Nahrungsmittelproduktion erfahren. In einem anderen Projekt arbeitete er mit Saatzüchtern zusammen, um seine eigenen Zutaten auf seiner Farm nahe New York City anzubauen und in seinem Sinne zu optimieren. Ohne den Druck, hohe Gewinne erzielen zu müssen, war es ihm möglich, sich auf Geschmack, Nährstoffgehalt und Krankheitsresistenz der Produkte zu fokussieren. Die Ergebnisse: ultrasüße Tomaten; eine Kartoffel mit einer so cremigen Konsistenz, dass man auf Butter verzichten kann; ein Kürbis der so süß ist, dass er “Honignuss” genannt wurde. Gemüse das heute in Dan Barbers Restaurants die Hauptrolle spielt (hier finden Sie ein passendes Rezept von Dan Barber: Die Möhre, die ein Hühnerschnitzel sein wollte).Die Art von Zusammenarbeit zwischen Küchenchefs und Lebensmitteltechnikern erweist sich seither in vielfältiger Weise als fruchtbar. Spitzenkoch Michel Bras arbeitet beispielsweise an einem Projekt zur Verbesserung der Ernährung älterer Menschen in Pflegeheimen. Bras ist Teil eines Expertenteams, zu dem Ärzte, Zahnärzte, Ernährungsberater und Sprachtherapeuten zählen und welches anstrebt, Nahrungsmittel zu schaffen, die nicht nur gesundheitsfördernd sind, sondern darüber hinaus die Lebensqualität der Bewohner verbessern, indem ihre Freude am guten Essen wiederhergestellt wird. Das Projekt hat untersucht, wie sich Geschmack ab einem bestimmten Lebensalter verändert, und sich auch mit praktischen Überlegungen wie der Verringerung von Erstickungsgefahr auseinandersetzt, so dass die Zutaten Form und Geschmack beibehalten können (das Essen wird in Pflegeheimen üblicherweise einfach püriert). Bras entwickelt darüber hinaus gesunde Süßigkeiten für Kinder mit Diabetes.
Die medizinische Fakultät der Tulane University in New Orleans engagierte die Küchenchefin Leah Sarris, um Studierende im Bereich Ernährungsweisen weiterzubilden – unter anderem im Kochen alltäglicher Gerichte. In einem Staat wie den USA, in dem 64 Prozent der Erwachsenen an Fettleibigkeit und damit verbundenen Beschwerden wie Diabetes, Herzerkrankungen und Bluthochdruck leiden, ist es Ärzten wichtig, dass Patienten in Ernährungsfragen mit praktisch anwendbaren Ratschlägen weitergeholfen wird. Nicht nur die Wahl der Nahrungsmittel selbst, sondern auch ihre Zubereitung betreffend. Dieser wegweisende Lehrgang in kulinarischer Medizin wurde inzwischen bereits von 16 weiteren medizinischen Hochschulen übernommen.
Der Basque Culinary Wolrd Prize
Die logische Konsequenz all dieser Entwicklungen: Im Jahr 2016 wurde ein neuer Preis ins Leben gerufen, um die Aufmerksamkeit auf jene Küchenchefs zu lenken, die ihre Fähigkeiten zum Wohle der Gesellschaft einsetzen. Der Basque Culinary World Prize wurde geschaffen, um die Geschichten solcher Wegbereiter weltweit zu fördern. Diese Auszeichnung ist ein gemeinsames Projekt der baskischen Regierung und des Basque Culinary Centre (BCC) und bietet dem Preisträger oder der Preisträgerin die Chance, eine Institution oder ein Projekt ihrer Wahl mit 100.000 Euro zu unterstützen.Der Basque Culinary World Prize wird von einigen der berühmtesten, innovativsten und sozial engagiertesten Köche weltweit vergeben. Unter Vorsitz von Joan Roca sind Vorreiter der Social Gastronomie wie Ferran Adrià, Enrique Olvera, René Redzepi und Massimo Bottura in der Jury versammelt, um bis zum Juli 2017 einen der Nominierten zum Sieger zu bestimmen. Der Nominierungszeitraum für den diesjährigen Basque Culinary World Prize endet bald. Fachkräfte aus dem gastronomischen Bereich können noch bis zum 19. Mai 2017 Köche nominieren, die für den Preis in Frage kommen.